ias institut für angewandte sozialwissenschaften: In der Zeit sein...

Donnerstag, August 18, 2005

In der Zeit sein...

Ich weiss noch, wie Mutter mir erstmals beibrachte, diese Zeiger zu lesen. Ich war sechs Jahre alt und wollte eine Uhr haben.
«Ich hab kein Geld für eine Uhr», sagte sie.
«Dann bitte ich Globermann, der kauft mir eine», sagte ich. «Er ist mein Vater und hat so viel Geld, wie er will.» (..)
«Du wirst gar nichts von gar niemandem erbitten», sagte Mutter in ruhigem, hartem Ton. «Du hast keinen Vater, Sejde, du hast nur eine Mutter, und was ich kann, kaufe ich dir. Du hast Nahrung zum Essen, Kleidung zum Anziehen und gehst nicht barfuss ohne Schuhe.»
Dann wurde sie weicher, führte mich an der Hand nach draussen und sagte: «Du brauchst keine Uhr, Sejde. Guck mal, wie viele Uhren es auf der Welt gibt.»
Sie zeigte mir den Schatten des Eukalyptus, der mit seiner Grösse, Richtung und Kühle neun Uhr morgens ansagte, die roten Granatapfelblättchen, die Mitte März verkündeten, den Wackelzahn in meinem Mund, der sechs Jahre anzeigte, und die flinken Fältchen in ihren Augenwinkeln, die vierzig sagten.
«Siehst du, Sejde, so bist du in der Zeit drinnen. Wenn ich dir eine Uhr kaufen würde, wärst du nur nebendran.»
Meir Shalev, Judiths Liebe, mit Dank an Mirko Marxen